Christoph Kohl, Direktor Kunstmuseum Witten

 

Das, was da im Dunkeln lauert


Schenkt man den allgemeinen Lexikondefinitionen Glauben, ist Angst ein Phänomen, das von situationsbedingten Zuständen über Neurosen bis zur existenziellen Angst des menschlichen Seins reicht. Primär tritt sie dann ein, wenn die eigene Existenz lebensbedrohlich in Gefahr gerät.
 Anke Lohrer, Meisterschülerin von Fritz Schwegler, bearbeitet dieses komplexe Thema mit einer scheinbar willkürlichen Ansammlung von Assoziationen. Der Künstlerin geht es um eine Annäherung an das, was Angst bedeuten kann, wodurch sie entsteht, vor allem aber, wie sie in die Sozialisierung des Individuums eingeführt wird. Inhaltlicher Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist der Umgang und die Darstellung von Angst im Märchen. Ein Medium ihrer künstlerischen Äußerung ist dabei das Künstlerbuch. Sie verwendet große Skizzenbücher und verwandelt sie in Objekte. Die Seiten sind besetzt mit Zeichnungen, Malereien, Zitaten oder selbst geschriebenen Texten, versehen mit den verschiedensten Materialien, architektonischen und skulpturhaften Schneidearbeiten und Gebilden, vernähten Blättern und lesezeichenartigen Figuren und Symbolen. Es handelt sich bei diesen Objekten nicht um Künstlerbücher im klassischen Sinn, in dem literarische Vorlagen illustriert werden, sondern um autonome Kunstwerke.

 

Wie in einem Band mit „Gute Nacht Geschichten“ schildert Lohrer ihre Essenzen zur Angst in „The Book of Fear 1“ und „The Book of Fear 2“. Der Rezipient ist aufgefordert sich aktiv mit der Arbeit auseinander zu setzen, er muss sie sich erarbeiten und entschlüsseln. Allgemein wenden sich die Bücher der Künstlerin an die Sinnlichkeit der Wahrnehmung und appellieren an die assoziative Kraft des Betrachters. Er bekommt etwas zu fühlen, zu lesen, zu sehen, er wird zu einem Forscher und Entdecker. Wie brisante Kurzgeschichten sind die Bildwelten und Schriftelemente hinter- und übereinander angelegt und schwanken zwischen humorvollen Allegorien, eindringlichen wie rätselhaften Textpassagen und beklemmenden Darstellungen.

 

Wie in einem skurrilen Traum erlebt der Betrachter eine fantastische Welt und gerät von der Flugangst, über den Angsthasen zu einem Paar und dessen Bindungsangst, von der Angst vor der Einsamkeit, der Angst in Kindertagen oder der klassischen Neurose direkt hinein ins Dunkel, ins Schwarze, ins Nichts. Was lauert dahinter? Ist es ein Wolf, die Bedrohung alles Fleischlichen? Der Wolf als Symbol des Bösen, der, der die Großmutter im Märchen „Rotkäppchen“ frisst? Geschürt wird die Angst im Dunkel durch die Fantasie, genauso wie durch die Märchenerzählung, in der zwar immer das Gute siegt, es aber auch geopfert werden muss, um ein Happy End zu erlangen. 


 

In „The Book of Fear 1” schreibt Anke Lohrer:
“Die echte Märchenfigur braucht nicht das Fürchten zu lernen, denn sie stirbt auch nicht…“. Laut Prof. Dr. Rölleke (1)  ist die Welt der Grimmschen Märchen von einem fundamentalen Optimismus geprägt. Da der Hauptprotagonist keinen echten Reifeprozess durchlebt, bleibt ihm letztlich Leben und Tod in seiner ganzen Bedeutung fremd. Hier liegt nun eine erstmalige Umkehrung des negativ besetzten Angstbegriffs vor. Nämlich die Fähigkeit, die Angst positiv zu nutzen, aus ihr zu lernen, durch sie zu reflektieren. Angst gestaltet das Leben turbulent, kann motivierend sein und zur, wie auch immer gearteten Erkenntnis führen. Angsterfahrung kann sinnstiftend sein.


 

In einer mehrteiligen Wandarbeit thematisiert Anke Lohrer verschiedene körperliche Ausdrucksformen, hervorgerufen durch die starke Empfindung der Angst. Kleine Tonskulpturen kommunizieren mit Zeichnungen auf Holz und mit Tusche bemalten Bildmedallions, die an zarten Fäden befestigt sind. Der körperliche Ausdruck von Angst wird dem Wesen der Angst aus den Büchern und dem Holzschnitt gegenübergestellt.

 

Das Tier, das sich buckelt und vor Angst den Schwanz einzieht oder die Frau, die sich zusammenkrümmt und in einer Ecke kauert – es sind Bilder und Situationen, die exemplarisch für eine körperliche Angstäußerung stehen. 
Dem ungeheuerlichen Ausmaß dieses Gefühls oder Zustands ist verbal kaum nahe zu kommen. Vielmehr ist es physisch ablesbar, es strömt anders nach außen, nicht aber in Form von Sprache, sagt Anke Lohrer und verweist auf Per Kirkeby: „Ich denke, es gibt Dinge, die mit Worten nicht auszuloten sind, man kann sie mit sprachlichen Mitteln nicht kommentieren, nicht kommunizieren, zumindest nicht in ihrer ganzen Tiefe. Sprache macht platt und diese Funktion ist wohl auch notwendig, damit wir weiter leben können, jenseits der Sprache bleibt also ein Rest, ein Bereich von unverarbeiteten Gefühlen,…“(2)


 

Anke Lohrer formuliert in poetischen Bildwelten, sie greift stets thematisch Dinge auf, die sie beschäftigen: Wünsche und Absurditäten des Alltags, die Hinterfragung gesellschaftlicher Phänomene, zwischenmenschliche Beziehungen - kurzum die Dynamik des Lebens, das, was den Menschen trägt, die Fantasie. Sie nutzt verschiedenste Möglichkeiten künstlerischer Medien. Zeichnungen, Collagen, Video, Bildhauerei und diverse Drucktechniken finden ebenso selbstverständlich Anwendung wie die Installation und das besondere Ausdrucksmittel des Buchobjekts.


Jahr: 
2007

   1 Prof. Dr. Rölleke, In: Bericht zur Tagung 
   „Angst essen Seele auf“ – Evangelische  Akademie Baden 2005.    <http://www.ev-akademie-baden.de/Presse/2005/art0501.htm.>
   2 Per Kirkeby, zitiert in: Anke Lohrer, Künstlerbuch 1995

 

Zurück zur Übersicht Publikationen